Von Denise Steger
18.3.2014
„Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde“ – nach der sensationellen Retrospektive seines Werkes 1988/89 in der Moskauer Tretjakow-Galerie und dem Amsterdamer Stedelijk-Museum ist die über 300 Werke und Dokumente umfassende Malewitsch-Ausstellung, die zur Zeit in der Bonner Bundeskunsthalle, in Kooperation mit dem Stedelijk-Museum Amsterdam und der Tate Modern London zu sehen ist, ein erneuter Höhepunkt in der Präsentation dieses revolutionären Erneuerers der Kunst im 20. Jahrhundert. Die Werkschau, vornehmlich aus dem Besitz der Tretjakow-Galerie, dem Staatl. Russischen Museum St. Petersburg und dem Stedelijk Museum stammend, wird ergänzt durch die bedeutenden privaten Sammlungen von Nikolai Chardschijew (1903-1996) und George Costakis (1913-1990). Dem Betrachter wird dadurch die Möglichkeit gegeben, das viele Schaffens-Phasen umfassende Gesamtwerk Malewitsch´s, insbesondere auch die seinen Gemälden vorausgehenden vorbereitenden Zeichnungen, Keimzelle künstlerischer Ideen, eingehend zu studieren.
Den Besucher empfängt im Eingangsbereich ein Werk aus dem Jahr 1915 im Stil des von Malewitsch entwickelten Suprematismus: „Selbstportrait in 2 Dimensionen“. „Die Welt als Empfindung der Idee, unabhängig vom Bild – das ist der wesentliche Inhalt der Kunst. Das Quadrat ist nicht das Bild. So wie der Schalter und der Stecker auch nicht der Strom sind.“ Dieses Malewitsch-Zitat fasst im ersten und gleichzeitig letzten Ausstellungsraum das Ergebnis seines Schaffens zusammen – dort wo zwei frühe und das letzte Selbstportrait sich treffen.
Das kleine, um 1909/1910 gemalte Selbstbildnis stammt schon aus einer Zeit, als Malewitsch den Einfluss des französischen Impressionismus, gekennzeichnet durch helle, kräftige Farbstriche und Tupfer, aus denen sich der Gegenstand in flirrendem Licht zusammensetzt, wie zum Beispiel seine Bilder „Kirche“ (1905) und „Haus mit Terrasse“ (1906) und auch seine religiös-symbolistischen Malereien, wie zum Beispiel „Adam und Eva (1903) oder „Himmelfahrt eines Heiligen“ (1907-1908), dabei war, hinter sich zu lassen. Aus einem Tondo, vor gelb-orangenem Hintergrund aus dem sich schemenhaft Figuren abzeichnen, mit Abstand betrachtet, gleich der Aura einer Sonne, blickt der Maler, leicht ins ¾-Profil gewendet, den Betrachter mit seinen hellblauen Augen an. Die kräftige Farbpalette, komplementäres Rot und Grün, das seinen Schulterbereich umspielt und sich in seinem Binder wieder findet, kontrastiert mit dem markanten Schwarz seines Haars und seiner Weste. Noch stärker tritt die Rot-Grün-Farbigkeit in einem weiteren Selbstbildnis zutage, in dem sich der Maler frontal darstellt, während im Hintergrund sich badende Gestalten abheben – zweifelsohne eine Reminiszenz an Henri Matisse, einer jener Maler aus der Gruppe der Fauves, dessen Werk zur damaligen Zeit Einfluss auf Malewitsch ausübte. Aber mehr noch als die französische Kunst, dessen Stilrichtungen Malewitsch in rascher Folge adaptierte, hat die mittelalterliche russisch-orthodoxe Kunst, die sich in der über Jahrhunderte tradierten Ikonenmalerei offenbart, den Künstler entscheidend und nachhaltig beeinflusst. Eine in der Ausstellung platzierte Ikone „Feurige Himmelfahrt des Propheten Elias mit Vita“ aus dem 17. Jahrhundert ist hierfür ein anschauliches Beispiel: Die Hauptdarstellung im zentralen Quadrat in dominierendem Rot (Feuer) vor goldenem Hintergrund (göttliche Welt) ausgeführt, während die Körperhaftigkeit des Heiligen, auch in den zahlreichen Neben-Szenen, in der Fläche völlig reduziert ist (Vergeistigung).
Kasimir Malewitsch, Selbstportrait, 1909-1910, Gouache, Aquarell und Bleistift auf Papier, gefirnisst, Europäische Privatsammlung
© Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Kasimir Malewitsch, Selbstportrait, 1908-1910, Aquarell und Gouache auf Papier, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie
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In der Schaffensphase von etwa 1911-1913 (Neoprimitivismus und Kubofuturismus) synthetisiert Malewitsch die Einflüsse der Europäischen Malerei mit denen seiner persönlichen Anschauung des einfachen russischen Volkes, insbesondere des Bauernlebens. Dem Betrachter offenbaren sich Werke, teilweise in prachtvoller Farbigkeit aber auch stark vereinfachter Figuration, wie zum Beispiel „Badender“ (1911), oder „Dielenbohnerer“ (1911-12). Schließlich stilisiert der Maler die Körper seiner Figuren in geometrischen Formen wie Kegel, Zylinder und Dreieck so stark, dass jenen das individuell-menschliche völlig abhanden kommt und sie mit dem Hintergrund zu einer einheitlichen Komposition, in der Form und Farbe bestimmend sind, verschmelzen.
Kasimir Malewitsch, Bäuerin mit Wassereimern und Kind, 1912, Öl/Lw., 73 x 73 cm, Amsterdam, Stedelijk Museum
Kasimir Malewitsch, Heuernte, 1912, Öl/Lw., 72 x 74.5 cm, Amsterdam, Stedelijk Museum
Kasimir Malewitsch, Kopf eines Bauernmädchens, 1912-1913, Öl/Lw., 80 x 95 cm, Amsterdam, Stedelijk Museum
Ein gesamter Raum der Ausstellung ist den Bühnen- und Kostümentwürfen Malewitschs für die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ gewidmet. Das Gesamtkunstwerk wurde am 3.12.1913 im Lunapark-Theater in St. Petersburg aufgeführt. Der zeitgenössische Poet Welimir Chlebnikow verfasste den Prolog, Alexeij Krutschonych das Libretto und Michail Matjuschin die Musik. Einer von drei Bühnenentwürfen Malewitschs zeigt ein ausschließlich geometrisches Muster, ein Quadrat, das sich aus einem schwarzen und einem weißen Dreieck zusammensetzt, ein erster Schritt in den Suprematismus, wie auch der Bühnenvorhang, der von Malewitsch mit einem schwarzen Quadrat bemalt wurde.
Kasimir Malewitsch, Bühnenentwurf für die Oper „Sieg über die Sonne“, 2. Akt, 5. Szene, 1913, Bleistift und Aquarell auf Papier, St. Petersburg, Staatliches Museum für Theater und Musik.
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Das futuristische Singspiel erzählt von einem Zeitreisenden, der von der veränderten Gesellschaft des 35. Jahrhunderts und vom Kampf der futuristischen Kraftmenschen gegen die Sonne berichtet. Die auftretenden typisierten Personen, wie „Großmaul“, „Feind“, „Randalierer“, „Feigling“, „Totengräber“, „Der Neue“, „futuristischer Kraftmensch“, „aufmerksamer Arbeiter“… entwarf Malewitsch in kubistischer Manier.
Kasimir Malewitsch, Kostümentwürfe für die Oper „Sieg über die Sonne“, Bleistift, Aquarell und Tusche auf Papier, St. Petersburg, Staatliches Museum für Theater und Musik.
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Mit der Zeichnung „der futuristische Drache“ machte Malewitsch auf die zukunftsweisende Arbeit seiner selbst und seiner Kollegen aufmerksam – so sind an den Rückenfortsätzen die Namen der russischen Avantgarde: Larionow, Gontscharowa, Krutschonych, Malewitsch, Tatlin, Burljuk, Majakowski und Chlebnikow geschrieben, darunter, „die Kritik, welche…nährte und (jetzt) an unserem Hintersinn verendet“.
Wohl während der Weiterentwicklung der Idee des Suprematismus, verarbeitete Malewitsch in den Jahren 1913-1914 kubistische und futuristische Stilformen und bekannte sich zu Konzepten des „Alogismus“ – einem Infragestellen des logischen Verhältnisses von Bild und Wirklichkeit. Beispiel für Ersteres ist das Ton-in-Ton gehaltene Gemälde „Leben im Grandhotel“ – für letzeres das Gemälde „Ein Engländer in Moskau“ – Ein mit Zeichen, Symbolen und Worten durchsetztes Bild, das wohl die zahllosen ungeordneten Eindrücke im Gehirn eines Reisenden in Moskau wiedergibt.
Kasimir Malewitsch, Leben im Grandhotel, um 1913, Öl/Lw., Samara, Regionales Kunstmuseum Samara.
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Kasimir Malewitsch, Ein Engländer in Moskau, 1914, Öl/Lw., 88 x 57 cm, Amsterdam, Stedelijk Museum
Im Dezember 1915 präsentierte Malewitsch in der Ausstellung der russischen Futuristen „0.10“ in St. Petersburg erstmals 35 seiner Werke, die über alles Gegenständliche „erhaben“, bzw. „der Natur nicht mehr verpflichtet sind“, und stellte sich mit der bahnbrechenden Entwicklung des „Suprematismus“, durch zahlreiche Schriften begleitet, an die Spitze der russischen Avantgarde. In der Bonner Ausstellung ist Malewitsch´s berühmtes „Schwarzes Quadrat“ zwar nicht zu sehen, aber vielleicht ist gerade durch die physische Abwesenheit dieser „Ikone“ ihr geistiger Gehalt umso präsenter und lenkt den Fokus sowohl auf die spannenden zeichnerischen Vorstufen und Paraphrasen als auch auf das „Rote Quadrat“, wobei bei näherer Betrachtung das auf weißem quadratischen Grund gemalte Rot gar kein echtes Quadrat ist, sondern am oberen Rand eine in leicht hellerem Farbton eine aufsteigende Schräge besitzt, so als wollte es sich aus seiner Form herausschieben.
Kasimir Malewitsch, Rotes Quadrat (Malerischer Realismus einer Bäuerin)
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Die suprematistischen Werke, deren klare symmetrischen Formen und Farben im Weiß des Weltalls bzw. in einem unendlichen geistigen Raum zu schweben scheinen, wirken teilweise ruhend, teilweise dynamisch, teilweise sakral; sie bilden den Mittelpunkt der Ausstellung und man glaubt selbst als Betrachter das „Befreiende“ zu spüren, das Malewitsch durch die Loslösung vom Gegenstand erzielt hatte.
Kasimir Malewitsch, Suprematismus 1915, ÖL/Lw., Tula, Verbund des Historisch-Heimatkundlichen Museums und Kunstmuseums.
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Kasimir Malewitsch, Suprematistisches Gemälde (mit schwarzem Trapez und rotem Viereck), 1915, Öl/Lw., Amsterdam, Stedelijk Museum.
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Doch selbst die Farbe verbannte Malewitsch schließlich aus seinen Bildern: „ Das Farbfeld muss vernichtet werden, das heißt, es muss sich in Weiß transformieren, die Entwicklung von Weiß weist auf meine Transformation in der Zeit. Meine Vorstellung von Farbe ist nicht länger farbig. Sie Verschmilzt zu einer Farbe – Weiß.“ (Kasimir Malewitsch 1920).
Dass Malewitsch nicht nur Maler war, sondern sowohl er, als auch seine engen Künstlerfreunde (El Lissitzky, Gustav Glucis, Sergej Senkin…) sich einerseits auf dem Gebiet der Architektur – mit den Entwürfen für Bauten der Zukunft, andererseits mit der Durchdringung von Kunst und Alltagsleben im Entwerfen von Stoffmustern, Postern, Porzellan… beschäftigten, wird in der Ausstellung ebenfalls ausführlich Rechnung getragen, hinzu kommt auch die Dokumentation von Malewitsch´s Lehrtätigkeit, die er, nachdem er die „Witebsker Schule“ mit einem Teil seiner Studenten verlassen hatte, von 1923-1926 als Leiter des Instituts für künstlerische Kultur in St. Petersburg wahrnahm.
Kasimir Malewitsch, Architekton Zeta, 1923-1927, Gips
Kasimir Malewitsch, Plakatentwurf für den Film Dr. Mabuse, 1926, Öl/Lw., 106 x 70,6 cm, Moskau, Tretjakow Galerie.
Schautafeln „Studien zur malerischen Kultur“, Amsterdam, Stedelijk Museum
Die Rückkehr zur Malerei vollzog Malewitsch ab dem Jahr 1927, nachdem er seine Werke in Warschau und Berlin präsentiert hatte und ohne sie nach Russland zurückgekehrt war. Sein Spätwerk ist ausgesprochen facettenreich, zum einen besteht es aus einer Anknüpfung an seine Schaffensphase um 1910, teilweise datiert er die Gemälde sogar zurück, teilweise vermerkt er auf der Rückseite der Bilder, dass es sich um Motivwiederholungen - aber auch, dass es sich durch die Erkenntnisse des Suprematismus um Neuformulierungen handelt. Dabei bewegt er sich ausschließlich im figürlichen Bereich, im Wesentlichen sind es Darstellungen aus dem Bauernmilieu, deren Abstraktionsgrad sich auf einer breiten Skala von formal hochstilisierten Figuren bis hin zum naturalistischen Portrait bewegt.
Kasimir Malewitsch, Schnitterin, 1912, Öl/Lw., 60 x 68, Astrahan, Gemäldegalerie B.M. Kustodiev (nicht in der Ausstellung)
Kasimir Malewitsch, Schnitterin, 1928-32 (Motiv von 1909 Nr. 11), Öl auf Holz, 72,4 x 72 cm, St. Petersburg, Staatl. Russisches Museum.
Kasimir Malewitsch, Weiblicher Torso, 1928/29, Öl auf Sperrholz, St. Petersburg, Staatl. Russisches Museum
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Kasimir Malewitsch: Frau mit Harke, 1928-32, Öl/Lw., 100 x 75 cm, Moskau, Staatl. Tretjakow-Galerie
Kasimir Malewitsch, Mädchen mit rotem Stab, 1932-1933, Öl/Lw., Moskau, Staatl. Tretjakow-Galerie
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Kasimir Malewitsch, Arbeiterin, 1933, Öl/Lw., St. Petersburg, Staatl. Russisches Museum
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Mit den sehr intimen und eher konventionell gemalten Portraits seiner Familie aus und Freunde den Jahren 1930-33 schließt sich der Kreis oder besser, die Spirale seines Schaffens, in der er, vor dem politischen Hintergrund des 1. Weltkriegs, der russischen Revolution und des Stalinismus, alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und in der die „Gleichzeitigkeit“ unterschiedlicher schöpferischer Kräfte immer wieder zum Tragen kam.
Kasimir Malewitsch, Selbstportrait, 1934, Öl/Lw., 55 x 45,4 cm, Moskau, Museum für Moderne Kunst.
Kasimir Malewitsch und die Russische Avantgarde
8. März – 22. Juni 2014
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Museumsmeile Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4