Von Anna Gesher
29. März 2016
Den Beginn des 20. Jahrhunderts markieren Revolutionen der Kultur und der Kunst. 1908 entwickeln Pablo Picasso und George Braque den Kubismus, Arnold Schönberg stößt 1909 im ersten seiner drei Klavierstücke op. 11 in die Atonalität vor. Im gleichen Jahr publiziert E. F. T. Marinetti das Futuristisches Manifest, Fauves und Expressionisten befreien die Farbe vom Gegenstand, der Blaue Reiter schwingt sich auf, Wassily Kandinsky vollzieht den Schritt in die Abstraktion, Mary Wigman tanzt expressiv…. Jahrhunderte alte Regeln werden in nur einem Jahrzehnt über Bord geworfen. 1914 jedoch beginnt ein grausamer Krieg, der Europa bis ins Mark erschüttert. Die neutrale Schweiz wird zum Fluchtpunkt vieler Künstler und Intelektueller. In der Hauptstadt Zürich entsteht 1916 Dada. Das ist 100 Jahre her und wird mit Ausstellungen und Aktionen vielerorts gefeiert. Unter dem Titel „Genese Dada“ widmet das Arp-Museum Bahnhof Rolandseck Dada in seinem Beginnen besondere Aufmerksamkeit.
Zwei zentrale Ausstellungs-Kuben in der oberen Etage des Museums erinnern mit ihren hochwertigen Exponaten an zwei Ereignisse, die der Genese Dada zugrunde liegen: Die Gründung des Cabaret Voltaire 1916 und die der Galerie Dada 1917.
Heinrich Campendonk, Landschaft mit zwei Tieren, 1914, Kolumba, Köln, Foto: Laothar Schnepf, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2016
Hugo Ball, der Philosophie und Soziologie studierte und auch eine Regieausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Berlin absolvierte, kommt im Sommer 1915 zusammen mit Emmy Hennings in die Schweiz. Sie gründen in der Spiegelgasse 1 in Zürich das „Cabaret Voltaire“ – in Erinnerung an den großen französischen Aufklärer, der die Missstände der Gesellschaft mit pointierter Ironie und scharfem Sarkasmus entlarvte. Die erste Vorstellung findet am 5. Februar 1916 statt. Zuvor erschien ein Presseaufruf, der Künstler ermunterte, Beiträge für die täglichen Soiréen zu liefern. Bei der Eröffnung präsentiert man an den Wänden Werke von Hans Arp, August Macke, Pablo Picasso u.v.a..
Hans Arp, ohne Titel, ca. 1915-16, The Hilla-von Rebay Foundation, Dauerleihgabe Solomon R. Guggenheim Museum, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Dichtungen von italienischem Futurismus bis zur französischen Avantgarde werden rezitiert, am Klavier erklingt Rachmaninow. Zum engen Kreis um Hugo Ball gehören der Maler, Bildhauer und Dichter Hans Arp, der Maler und Architekturstudent Marcel Janko, der Schriftsteller und Publizist Tristan Tzara (alias Sami Rosenstock) sowie der Dichter und spätere Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck: Zeremonienmeister des Untergangs und des Neuanfangs.
Einladung zur Eröffnung des Cabarets Voltaire, am 5. Februar 2016 © 2016 Kunsthaus Zürich
Schon bald wird das offene, improvisierte Programm radikaler, provokanter – ein furioses Neben-, In- und Nacheinander von Rezitations-, Tanz- und Musiknummern insbesondere auch von afrikanische Rhythmen und Maskentänzen. Sprache und Dichtung werden negiert, zerlegt und neu formiert, Simultangedichte (1911/12 von Henri Barzun und Fernand Divoire erfunden) und Bruitismus konsequent weiterentwickelt. Als einen der Höhepunkte kann wohl Ende Juni 1916 Hugo Balls Auftritt in einem kubistischen gold-rot gefärbten Pappkostüm gewertet werden, in dem er sein Lautgedicht „Karawane“ in feierlicher Intonation vorträgt.
Hugo Ball im kubistischen Kostüm, 1916, Hugo-Ball-Sammlung, Pirmasens, unbekannter Fotograf
„Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. Der Krieg mit seiner Propaganda hat die Sprache, diese Sprache, an der Schmutz klebt […], unglaubwürdig gemacht.“, schreibt Hugo Ball im Dada-Manifest. Die Verlesung dieses Manifestes, in dem der Begriff „Dada“ als neue Kunstrichtung postuliert wird, ist Bestandteil des ersten Dada-Abends am 14. Juli 1916, allerdings nicht mehr im Cabaret Voltaire, das nach nur vier Monaten geschlossen werden musste, sondern im Zunfthaus zur Waag.
Giorgio De Chirico, The Evil Genius of a King, 1914-15; The Museum of Modern Art, New York, Digitale Aufnahme: Scala, Florence, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Mit der Gründung der „Galerie Dada“ wird das 2. Kapitel der Genese aufgeschlagen. Die erste Ausstellung findet in den Räumen der Galerie von Han Coray (1880-1974) im Januar 1917 statt. Das Haus in der Bahnhofstraße 19, in einem bedeutenden Handels- und Geschäftsviertel von Zürich gelegen, gehört dem Millionär und Schokoladenhersteller Sprüngli. Die 4 Ausstellungsräume werden im März 1917 von Hugo Ball und Tristan Tzara übernommen. Han Coray, Reformpädagoge und Kunstsammler, gilt als Unterstützer der zeitgenössischen Kunstszene. Er beauftragte Hans Arp und Otto Rees 1915 zwei monumentale Wandgemälde im Eingangsbereich der von ihm gegründeten Pestalozzi-Schule in Zürich-Hottingen zu schaffen, außerdem ließ er im Dachgeschoss der Schule zwei Gastwohnungen und ein Atelier einrichten, das zeitweise auch von Emmy Hennings genutzt wurde.
Hans Arp, Wandbild in der Pestalozzi-Schule, Foto: Bearb. Kunst am Mittelrhein
Im Gegensatz zum anarchischen Improvisationstheater im Cabaret Voltaire, leiten die Dadaisten ihre Kunstevents jetzt in seriösere Bahnen, gilt es doch, der zeitgenössischen Avantgarde in der bildenden Kunst in Verbindung mit Soiréen, in denen neue Musik, Vorträge zur Kunstgeschichte, Rezitationen,Tanzdarbietungen von Mitgliedern der 1915 in Zürich gegründeten Laban-Schule (hierzu gehört auch Sophie Taeuber, die spätere Frau von Hans Arp), eine für das Züricher Publikum ansprechende Struktur zu geben und Dada als neue Kunstrichtung zu verankern.“Die Barbarismen des Kabaretts sind überwunden. Zwischen ´Voltaire` und ´Galerie Dada` liegt eine Spanne Zeit, in der sich jeder nach Kräften umgetan und neue Eindrücke und Erfahrungen gesammelt hat,“ konstatiert Hugo Ball am 22. März 1917.
Marcel Janco, Plakat der ersten Dada-Ausstellung in der Galerie Corray, 1917, Slg. Pieter Coray, Foto: Roberto Paltrinieri, @ VG Bild-Kunst, 2016.
Programm Abend Neuer Kunst, Galerie Dada, Zürich, 28. April 1917, © Kunsthaus Zürich
Insgesamt werden in den nur wenigen Monaten bis zur Schließung am 1. Juni vier Ausstellungen und sechs Kunstabende veranstaltet, vor allem auch in Kooperation mit dem Berliner Kunstsammler und Herausgeber der angesagten Kunstzeitschrift „der Sturm“, Herwarth Walden.
Hilla Rebay, Composition I, 1915, © Solomon R. Guggenheim Museum, New York, The Hilla Rebay-Collection
Auch die Züricher Dadaisten werden nicht müde, ihre Ideen und Thesen publizistisch zu untermauern: Hierzu gehören Hugo Balls Anthologie des Cabaret Voltaire 1916 und kurz nach der Schließung der Galerie die Zeitschrift „Dada“ mit einer ersten Ausgabe am 1 im Juli 1917. Vier weitere sollten bis 1919 folgen. Aber da ist die „Genese Dada“ bereits Vergangenheit – Dada hat die Welt erobert und lebt international weiter; wird Impuls für neue Kunstrichtungen.
Max Oppenheimer, The World War, 1916, The Museum of Modern Art, New York, Digitale Aufnahme: Scala, Florenz, © 1916, The Museum of Modern Art
Die Ausstellung im Arp-Museum blickt tiefer, hakt nach, wie diese „Genese Dada“ zustande kommen konnte – Der Co-Kurator Adrian Notz, heutiger Leiter des Züricher „Cabaret Voltaire“, führt die Genese Dada auf zwölf Begriffe zurück: Mystik, Psyche, Philosophie, Literatur, Sprache, Soirée, Kunst, Afrika, Maske, Tanz, Revolte und Marke. Freilich gelten solche Begriffe auch für die Genese anderer früherer Kunstrichtungen, wie zum Beispiel Blauer Reiter oder Kubismus. Das Besondere scheint das Zusammenzutreffen all jener im Nukleus Dada zu sein, aus dem noch so unterschiedliche Künstler ihre essentielle Kraft ziehen.
Hans Arp, Configuration, Portrait von Tristan Tzara, 1916, Musée d´Art et d´Histoire, Ville de Genève, Foto: Bettina Jacot-Descombes, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
Doch gerade das, was Dada so frei macht, eben nicht begrifflich greifbar zu sein, wird durch ein didaktisches Konzept mit monumentalen komplizierten Schautafeln eingeengt. Die sorgsam zusammengetragenen Bilder, Dokumente, Fotos brauchen diesen „Überbau“ eigentlich nicht. Der Anspruch „Genese Dada ist keine Dada-Ausstellung; sie folgt nicht den Vorstellungen und Erwartungen davon, was Dada ist, und zeigt auf, dass die ersten Ausstellungen im Kontext von Dada keine Dada-Ausstellungen waren“ (Zit. Adrian Notz im Ausstellungs-Katalog S. 32) ist ein Widerspruch in sich. Dada wurde aus einer ganz bestimmten zeitlichen Konstellation geboren, in der die vorausgegangene Revolution in den Künsten einerseits und das Zusammentreffen von unterschiedlichsten Menschen in dem durch den 1. Weltkrieg erschütterten Europa andererseits, die wichtigste Rolle spielten.
Dada-Tanz mit Maske (Sophie Taeuber oder Emmy Hennings). Ca. 1917, © Stiftung Arp e.V., Berlin/ Rolandswerth, unbekannter Fotograf
Und heute? Kann Dada der zeitgenössischen Kunst noch Impulse geben? Die Ausstellung „Genese Dada“ wird begleitet von einer weiteren, in den Räumen des Bahnhofs Rolandseck unter dem Titel „Seepferdchen und Flugfische“ (Der Titel entstammt einem Lautgedicht von Hugo Ball, zu dem Sophie Taeuber einen Tanz entwickelte). Stipendiatinnen und Stipendiaten des Künstlerhauses Schloss Balmoral wurde die Aufgabe gestellt, sich mit Dada drei bis neun Monate auseinander zu setzten und einen Generationen übergreifenden Dialog der Künste zu starten. Auch wenn immer wieder Parallelen der heutigen Zeit zur damaligen gezogen werden, so können die Situationen im Grunde nicht verglichen werden, weder gesellschaftlich, noch politisch, noch künstlerisch. Dada ist eine Sprache, die in ihrer Zeit verankert war. Die künstlerischen Strategien, die die Dadaisten entworfen haben, sind in die darauffolgenden Kunstrichtungen eingeflossen und leben dem entsprechend bis heute. Aber ein Nachschaffen ist kein Neuschaffen. Dennoch gelingt einigen der Ausstellenden eine Sprache, die über Dada hinausgeht, wie zum Beispiel der Berliner Künstlerin Johanna Smiatek, die mit ihrem Werk „Secret Power – Top Secret“ (eine geschlossene Spiegelglasvitrine, in der durch Sensoren ab und zu ein Blick ins Innere der Vitrine auf Handgranaten aus vergoldeter Keramik freigegeben wird) die politische Brisanz in unserem jetzigen Leben (Terrorbedrohung, Waffengeschäfte, Ohnmacht des Einzelnen….) in vielfacher Weise reflektiert. Und das macht das vergleichende Sehen dieser beiden Ausstellungen so interessant.
Arp Museum Bahnhof Rolandseck, 14. Februar bis 10. Juli 2016